„Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie“ sagte uns der Arzt „Ihr Sohn wird für den Rest seines Lebens ein schwerster Pflegefall sein und sein Leben im Bett liegend verbringen. Er wird nichts können – weder Gehen, noch Schreiben, noch Sprechen. Er wird sich nicht einmal mit Händen und Füßen verständigen können. Bei der Hirnblutung wurde sein gesamtes Motorik-Areal zerstört. Da ist nichts mehr zu machen. Wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Je eher Sie es annehmen, desto leichter wird es für alle Beteiligten.“
Ich nahm diese Diagnose der Ärzte nicht eine Sekunde an und begab mich mit meinem Sohn auf einen langen und mühsamen Weg – der letztendlich zu meinem Ziel führte – ihn selbstständig zu machen. Das Ganze geschah 1995, damals gab es keine Selbsthilfegruppen, bei denen ich mir Rat hätte einholen können. Alles, was ich machte, geschah aus einer Intuition und aus einem tiefen Glauben heraus, dass noch nicht alles verloren sei und wir Menschen unser Leben sehr wohl mitgestalten können. Wie ich meinen Sohn zum selbstständigen Leben führte und was ich alles unternahm, möchte ich im Folgenden erläutern. Auch wenn es sich bei meinem Sohn um ein ehemalig extremes Frühchen mit Hirnblutung handelt, so kann die eine oder andere Maßnahme auch für jemanden mit sonstiger Hirnschädigung hilfreich sein.
Auf der Frühchen-Intensivstation
Mein Sohn verbrachte drei Monate im Inkubator (Brutkasten). Wenn er nicht zum „Känguruhen“ herausgeholt und auf meinen Oberkörper gelegt wurde, was meistens nachts geschah, sorgte ich dafür, dass er einen kleinen Walkman mit Kopfhörer in seinem Inkubator hatte. So konnte er meine Stimme jederzeit hören und hatte das Gefühl, dass er nicht alleine war. Den Krankenschwestern ließ ich stets genügend Batterien zum Wechseln da. Diese Maßnahme sorgte nicht nur dafür, dass mein Sohn glaubte, seine Mama wäre stets bei ihm, sondern schulte schon sehr früh sein Gehör, was die Voraussetzung fürs Sprechen ist.
Mit dem Känguruhen, dem Auflegen auf meinen nackten Oberkörper, wurde meinem Sohn Körperwärme und Berührung, die Stimme der Mutter und das Hören des bekannten Herzschlags geboten, was seine Entwicklung im Allgemeinen förderte.
Wann immer ich durfte (und ich es mir nach Anleitung zutraute) übernahm ich vielzählige pflegerische Aufgaben, wie Baden, Windelwechsel, Temperaturmessung, Fütterung, Elektrodenwechsel. Damit behielt mein Sohn mich als seine Mutter weitestgehend als Bezugsperson und konnte eine Beziehung zu mir aufbauen – genauso wie umgekehrt. Studien haben ergeben, dass Frühgeborene, deren Eltern als direkte Betreuer auf der Intensivstation eingebunden werden, schneller an Gewicht zulegen und die Eltern zudem weniger Stress und Ängste um das Kind entwickeln. Das Kind spürt, fühlt und hört die Nähe der Eltern, die mit ihrer Liebe und Zuneigung eine ergänzende Hilfestellung bei diesem schwierigen Start ins Leben leisten können.
Als der Oberarzt mich fragte, ob ich meinen Sohn an einer Studie zu einem neuen Medikament teilhaben lassen wolle, weil dieses das Risiko für gefährliche Bluttransfusionen verringern könnte – allerdings das Medikament erstmalig getestet wurde – war ich überfordert, da ich Chancen und Risiken als Laie nicht abwägen konnte. Ich wollte keine falsche Entscheidung treffen und nahm das Expertenwissen zu Hilfe: Ich fragte den Oberarzt, wie er entscheiden würde, wenn es sich um sein Kind handeln würde. Er teilte mit, dass er das Medikament seinem Kind verabreichen würde, also erhielt Dominic es auch. Daher fühle Dich bitte nicht alleingelassen oder überfordert mit solchen Entscheidungen, die Du nicht treffen kannst, sondern frage einfach Fachpersonal, denen Du vertraust.
Auf der Säuglingsstation
Ich hatte die gleichen oben genannten Maßnahmen auch auf der Säuglingsstation durchgeführt. Das ist insofern wichtig zu erwähnen, weil im gleichen Krankenhaus die Stationen – je nach Leitung – unterschiedlich geführt wurden. Das, was auf der Frühchen-Intensivstation nicht nur erlaubt, sondern sogar gefördert wurde, war auf der Säuglingsstation leider überhaupt nicht gern gesehen, weil es ihren Ablauf störte. Mir war jedoch wichtig, das mein Sohn alles weiter erhielt, was seiner Entwicklung förderlich war. Ich setzte mich daher dafür ein, dass ihm alles angediehen wurde, wie auf der vorherigen Station – letztendlich sogar durch Zuhilfenahme des Leiters der Frühchen-Intensivstation. Bitte gib nicht so schnell auf, wenn Du auf Widerstände stößt, denn es handelt sich hierbei um die bestmögliche Pflege und Zuwendung, die Du Deinem Kind oder Deinem/r Liebsten zukommen lassen kannst.
Nach dem Reanimationskurs
Bevor wir unseren Sohn mit nach Hause nehmen konnten, mussten wir einen Reanimationskurs besuchen, weil sein Herz und seine Lunge immer noch Aussetzer hatten. Säuglinge werden anders wiederbelebt als Kinder bzw. Erwachsene, daher war diese Maßnahme zwingend notwendig. Um das Erlernte nicht im Bedarfsfall falsch anzuwenden oder gar nicht zu erinnern, schrieb ich mir alle Schritte der Wiederbelebung auf ca. 20 Seiten auf und klebte sie überall in der Wohnung an die Wände, um im Notfall direkt darauf zugreifen zu können. Eine Anleitung legte ich mir sogar ins Auto, falls meinem Sohn unterwegs etwas zustoßen sollte und ich eingreifen musste.
Nach dem Krankenhausaufenthalt zuhause
Aufgrund der langen Zeit auf der Intensivstation, währenddessen die Frühchen häufig nachts untersucht oder operiert wurden, hatte Dominic keinen Tag- und Nacht-Rhythmus entwickelt. Auch fehlten ihm aufgrund der viel zu frühen Geburt die natürlichen Schaukelbewegungen im Mutterleib. All dies waren wichtige Impulse für seine Gehirnentwicklung, die ihm jedoch fehlten. Schlaf war selten und schwierig und auch die weitere Entwicklung einzelner Gehirnbereiche, wie zum Beispiel dem Gleichgewichtssinn standen in Gefahr.
Ich machte mir umgehend Gedanken, wie ich dem beikommen konnte. Wir hatten lange gesucht und wurden endlich fündig: Ein Wasserbett speziell für Kleinkinder in Gitterbettchen. Sein eigenes Atmen sorgte für eine leichte Bewegung des Wasserbetts und damit für eine Stimulanz seines Gehirns. Zudem konnte ich, die ich nachts direkt neben seinem Bettchen schlief, mit meiner Hand ganz sanft das Wasserbett zum leichten Schaukeln bringen und Dominic so in den Schlaf wiegen.
Ich suchte mit Dominic drei Mal pro Woche eine Krankengymnastikpraxis auf. Anstatt ihn dort für die Dauer der Therapie alleine zurückzulassen, blieb ich dort und unterhielt mich mit den Physiotherapeuten. Ich wollte von ihnen wissen, wofür bestimmte Übungen gut waren, worauf es bei den Übungen ankam, was die Experten mir für zuhause empfahlen und auch ob sie Veränderungen bei Dominic feststellten. Ich wollte im engen Austausch mit ihnen sein, weil ich von ihnen lernen wollte.
So kam es, dass ich ihre therapeutische Schaukel für mein Wohnzimmer nachbauen ließ, um Dominic tagsüber darauf zu schaukeln. Auch kaufte ich den gleichen Gymnastikball, wie die Therapeuten ihn benutzten, und wippte mit Dominic tagsüber ebenso darauf wie sie.
Jede Information, die ich über die Therapeuten erhielt, wurde von mir übernommen und in meinen Alltag zuhause mit meinem Sohn integriert.
Nachdem man mir erklärte, dass sich unter der Haut Rezeptoren befinden, die dem Gehirn wertvolle Impulse liefern, diese aber aufgrund des Kaiserschnitts nicht bei ihm aktiviert worden seien, folgte ich dem Rat der Therapeuten und drückte jeden Tag sanft sämtliche Stellen seines Körpers oder rollte einen Tennisball oder speziellen Noppenball entlang seiner Arme und Beine.
Auch bewegte ich immer wieder seinen Kopf, seine Arme und Beine in sämtliche Richtungen oder drehte ihn von Bauch- in Rückenlage und umgekehrt, nur um sämtliche Rezeptoren unter der Haut und die Muskeln zu aktivieren, damit all diese Impulse in sein Gehirn gelangten.
Ich gab Dominic immer wieder Gegenstände mit unterschiedlichen Oberflächen in seine Hand und drückte sie mit meinen Händen zur Faust, so dass er die verschiedenen Strukturen von Frottee, Schwamm, Walnuss, Pinsel, Metalllöffel und vielen weiteren mehr zu unterscheiden lernte.
Ich scheute mich auch nicht davor überall von Dominics Schwierigkeiten zu erzählen, denn nur so kam ich an vielfältige Informationen zu neuesten Methoden oder weiteren Experten, die ich aufsuchen konnte.
1995 waren Methoden, wie Homöopathie, Osteopathie und Kinesiologie weitestgehend unbekannt. Ich probierte alles aus – selbst eine Kartenlegerin und eine Geistheilerin wurden von mir aufgesucht. Gab mir ein Experte oder eine Methode ein gutes Gefühl, so machte ich damit weiter, ansonsten verwarf ich es nach dem ersten Besuch wieder.
Auch hielt ich unentwegt Ausschau nach neuesten Hirnforschungsergebnissen oder aktuellen Studien und meldete Dominic bei diesen an, in der Hoffnung angenommen zu werden. Erfuhr ich von einer Studie, die bereits durchgeführt worden und daher keine Teilnahme mehr möglich war, bat ich um die Studienergebnisse oder fragte nach Folgestudien an.
Mir war wichtig, dass ich nichts unversucht ließ und vor allen Dingen meinem Gefühl der Hilf- und Ausweglosigkeit etwas entgegen setzen konnte.
Durch Zufall erfuhr ich von einem Gerät, welches der Weltraumforschung entstammte. Aufgrund der Schwerelosigkeit im Weltall verlieren Astronauten ihre Muskelmasse und damit Muskelkraft. Um dem vorzubeugen wurde extra das Galileo-Gerät entwickelt, was ein spezielles Vibrationsgerät ist, welches die tieferliegende Muskulatur erhält und aufbaut. Damals war dieses Gerät nur im klinischen Einsatz. Ich unternahm viele Anläufe – am Ende beim Hersteller selbst – um ein Gerät für den privaten Gebrauch zu erhalten. Sodann trainierte ich jeden Tag mit Dominic darauf.
Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch mit der Physiotherapeutin, in welchem ich fragte, wie wohl die Zukunft von Dominic schulmäßig ausschauen würde. Die Expertin erzählte mir, dass Körperbehinderte erfahrungsgemäß schlecht in Mathematik seien, weil ihnen die natürlichen motorischen Entwicklungen und Erlebnisse fehlten. Ich fragte nach, inwiefern die fehlende körperliche Bewegung zu einer Fünf in Mathe führe. Zu meinem Erstaunen erklärte sie mir, dass Kinder durch das Krabbeln und Anstupsen an der Wand die Größe des Raumes wahrnehmen und somit die Grundlagen der Mathematik im Gehirn aufbauen. Dominic aber konnte nicht krabbeln. Was tat ich? Ich legte eine Decke auf den Boden und meinen Sohn darauf. Dann legte ich mich hinter ihn und robbte durch die ganze Wohnung, ihn auf der Decke vor mir herschiebend. Ich ließ ihn sprichwörtlich „vor die Wand laufen“, so dass sein Gehirn die notwendigen räumlichen Informationen erhielt.
Nach langer Recherche fand ich eine private Ambulanz in der Nähe von Freiburg – die heute leider aus Altersgründen des Gründers nicht mehr existiert – , welche ich zweimal pro Jahr für zwei bis drei Wochen aufsuchte. Diese Klinik hatte für mich bzw. Dominic das richtige Konzept. Alle Experten im Haus arbeiteten an einem Ziel, welches mit den Eltern abgesprochen war. Ich wurde immer vorab gefragt, was Dominic bereits könne bzw. ihm noch Schwierigkeiten bereiten würde. Wenn ich beispielsweise meinte, dass Dominics Alltag erleichtert würde, wenn er ein Glas besser greifen und zum Mund führen könnte oder das Öffnen einer Flasche möglich wäre, dann arbeiteten sowohl die Ärzte, die Physiotherapeuten, Masseure, Ergotherapeuten, usw. einzig und allein an diesem Ziel. Alle wussten vorab Bescheid und unternahmen aus ihrer Expertise das Notwendige, um diesem Ziel näherzukommen. Diese Arbeit machte für mich Sinn und ich konnte mir von allen Experten deren Übungen abschauen, die ich sodann zuhause übernahm. So lange, bis Dominic es erlernte und selbst bewältigen konnte. Es war eine lange und mühsame Zeit, aber Dominic lernte Schrittchen für Schrittchen. Langsamer als die anderen Kinder – aber er lernte.
Im Jahr 2000 erhielt der Neurowissenschaftler Prof. Dr. Eric Kandel den Nobelpreis für den Nachweis der Neuroplastizität des Gehirns, also der Veränderbarkeit und auch Reparaturfähigkeit des Gehirns – an einer Schnecke. Ich setzte mich zu dem Zeitpunkt bereits seit 5 Jahren praktisch damit bei meinem Sohn auseinander und wusste, was ihm letztendlich half und was nicht: es waren die konstanten Impulse, die ich ihm bzw. seinem Gehirn unentwegt in vielfältiger Weise gab. Die Hirnforschung weiß heute, wie unser Gehirn lernt und notwendige Strukturen dazu aufbaut – und wie es diese wieder verlernt und abbaut: nur über eingehende oder ausbleibende Impulse.
Fazit
Wenn jemand aus Deinem Umfeld eine Hirnschädigung erlitten hat, muss das nicht das Ende bedeuten und diese Person zwangsläufig zum schwersten Pflegefall verdammt sein. Wie Du am Beispiel meines Sohnes sehen kannst, gibt es vielfältige Möglichkeiten, um dem Gehirn notwendige Impulse zu geben, so dass es lernen kann
- neue Hirnzellen und Verknüpfungen untereinander zu bilden
- die Aufgaben der zerstörten Hirnzellen an bestehende zu übertragen.
Zu beidem ist das Gehirn lebenslang bis ins hohe Alter fähig. Wichtig ist, nichts unversucht zu lassen und Geduld zu haben. Es gibt keine Garantie, ob und wann welche Übung zum Ziel führt, aber was garantiert werden kann: Nichts zu machen, lässt die Auswirkung einer Hirnschädigung weder mildern noch bessern.
Alles erdenkliche Gute Dir,