Die Vorstellung, dass die rechte und linke Gehirnhälfte unterschiedliche Persönlichkeiten hervorbringen – die eine kreativ, die andere rational – ist tief in unserem kollektiven Bewusstsein verankert. Doch trotz der weit verbreiteten Akzeptanz dieses Konzepts, ist es schlichtweg falsch.
Woher stammt der Mythos der geteilten Gehirne?
Der Ursprung dieser Idee lässt sich auf das 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Der englische Arzt Arthur Wigan veröffentlichte 1844 das Buch The Duality of Mind. Er behauptete, jede Gehirnhälfte habe ihren eigenen „Geist“. Normalerweise arbeiten diese beiden Geister zusammen, aber Krankheit oder Verletzung könnten eine dramatische Veränderung der Persönlichkeit bewirken. Diese These inspirierte nicht nur die berühmte Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, sondern legte auch den Grundstein für die Vorstellung, dass unsere „höheren“ und „primitiveren“ Selbst in unterschiedlichen Hemisphären des Gehirns beheimatet sind.
Diese Idee wurde in den 1960er Jahren durch die Forschung des Nobelpreisträgers Roger Sperry weiter befeuert. Seine Experimente mit sogenannten „Split-Brain“-Patienten, deren Gehirnhälften chirurgisch voneinander getrennt waren, zeigten, dass Sprachfunktionen oft in der linken Hemisphäre lokalisiert sind. Doch die Übersimplifizierung dieser Ergebnisse führte dazu, dass sich die Idee festsetzte, die linke Hemisphäre sei für Logik und Rationalität zuständig, während die rechte Hemisphäre der Sitz von Kreativität und Intuition sei.
Die Wissenschaft widerlegt den Mythos
Heute wissen wir dank moderner Gehirnscans, dass diese Vorstellung so nicht stimmt. Zwar gibt es einige Spezialisierungen in den Gehirnhälften – wie etwa die Sprachverarbeitung, die bei den meisten Menschen tatsächlich primär in der linken Hemisphäre stattfindet – doch die Vorstellung einer strikten Trennung zwischen rationaler und kreativer Seite ist schlichtweg falsch. In Wahrheit arbeiten beide Hemisphären eng zusammen. Um beispielsweise eine komplexe Aufgabe wie das Malen eines Bildes zu bewältigen, müssen beide Gehirnhälften ständig miteinander kommunizieren. Die rechte Hemisphäre mag stärker an der Verarbeitung von visuellen Eindrücken beteiligt sein, während die linke Hemisphäre sich mehr mit der Planung und Durchführung der Bewegungen beschäftigt. Doch diese Prozesse laufen nicht isoliert voneinander ab – das Gehirn arbeitet als Einheit.
Der Irrglaube in der Bildung und Populärkultur
Trotz der wissenschaftlichen Erkenntnisse hält sich der Mythos hartnäckig. Mehr als die Hälfte der Naturwissenschaftslehrer an Gymnasien glaubt weiterhin, dass Intuition und Kreativität primär von der rechten Gehirnhälfte gesteuert werden, während Logik und Mathematik in der linken Hemisphäre beheimatet seien. Dieser Glaube hat nicht nur die Bildung, sondern auch die Populärkultur durchdrungen. Bücher wie Drawing from the Right Side of the Brain und Persönlichkeitstests, die Menschen in „linke“ oder „rechte“ Gehirntypen einteilen, tragen zur Verbreitung dieser Fehlinformation bei.
Warum der Mythos schädlich sein kann
Der Mythos der getrennten Gehirnhälften ist nicht nur falsch, er kann auch unser Verständnis von Kreativität und Rationalität verzerren. Wenn wir glauben, dass nur bestimmte Menschen „kreativ“ sein können, weil ihre rechte Gehirnhälfte dominiert, schränken wir unser Potenzial ein. Jeder Mensch hat die Fähigkeit zur Kreativität und zum rationalen Denken – beides hängt davon ab, wie gut unser gesamtes Gehirn zusammenarbeitet.
Was bedeutet das für uns?
Die moderne Neurowissenschaft zeigt, dass das Gehirn nicht in starren Kategorien wie „links“ und „rechts“ denken kann. Stattdessen ist es ein hochkomplexes, integriertes System, das ständig Informationen zwischen den Hemisphären und verschiedenen Gehirnregionen austauscht. Ob wir nun Mathematik betreiben, ein Gedicht schreiben oder meditieren – unser gesamtes Gehirn ist beteiligt.
FAZIT
Also, wenn du das nächste Mal jemanden hörst, der von der „kreativen rechten Gehirnhälfte“ oder der „rationalen linken Gehirnhälfte“ spricht, denk daran: Kreativität und Logik sind keine getrennten Entitäten. Sie sind das Ergebnis eines harmonischen Zusammenspiels aller Teile deines Gehirns. Ein Mythos, der in der Geschichte verwurzelt ist, sollte uns nicht davon abhalten, die wahre Komplexität und Schönheit unseres Gehirns zu schätzen.
Alles erdenkliche Gute Dir,